Der Name „Montessori“ hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Label entwickelt, das deutlich bekannter ist als die Person dahinter. Vom selbstgerichteten Lernen, von Alltagsgegenständen in Kleinkindgröße und von diffizilen Lernmaterialien aus Holz wissen auch viele Menschen, die gar keine Ahnung davon haben, dass „Montessori“ der Nachname einer ungemein außergewöhnlichen Frau war.
Das hätte Maria Montessori selbst womöglich gar nicht so falsch gefunden, war sie doch stets um die Sache bemüht und mehr daran interessiert, etwas zu bewegen, als sich hervorzutun. Allerdings war sie von früher Jugend an eine eindrucksvolle und starke Persönlichkeit und davon lassen sich ihre vielen Errungenschaften bestimmt nicht trennen.
Wer war Maria Montessori?
Dazu gibt es eine Anekdote der jungen Maria Montessori, die gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte. Da sie als blutjunge, äußerst kompetente Dottoressa schon zu einigem Ruhm in Italien gekommen war, lud man sie im September 1896 nach Berlin ein. Dort fand ein internationaler Frauenkongress statt, der sich mit der gesellschaftlichen Rolle und den Rechten der Frau befasste.
Montessori, die auf diesem Kongress zwei Reden hielt, wurde in der deutschen und italienischen Presse über den grünen Klee gelobt: Nicht nur, weil sie so intelligent und selbstbewusst wirkte, sondern auch wegen ihrer femininen Ausstrahlung und ihres guten Aussehens. Sie selbst schrieb nach diesem Großereignis an ihre Eltern, dass sie von nun an keineswegs mehr in der Zeitung erscheinen wollte. Nein, sie wollte endlich ernsthaft arbeiten – und das tat sie dann auch.
Diese kleine Biografie erzählt von ihrer ernsthaften Arbeit, aber auch von den Schwierigkeiten, denen Maria Montessori stets mit großer Entschlossenheit entgegen trat. Sie soll dir dazu dienen, die Person hinter der Pädagogik kennenzulernen und zu verstehen, auf welchem Boden ihre Ideen gewachsen sind.
In der Enge gewachsen
Wenn eine Person ein System besonders radikal infrage stellt, muss natürlich gefragt werden, woher diese oppositionelle Haltung kommt. Im Fall von Montessori: wie waren ihre eigenen Erfahrungen mit Bildung und Erziehung, dass sie in der Lage war, eine vollkommen neuartige pädagogische Schule zu entwickeln?
Dazu gehören wohl zwei Seiten: die Enge des massiv reglementierten italienischen Bildungssystems, das Montessori selbst bis zum Doktortitel durchlaufen hat; und die geistige Weite, die ihr selbst eigen war. Das temperamentvolle Einzelkind, das 1870 in den Marken geboren wurde, hatte wohl eine angeborene Neigung zu großer Aktivität und eigenständigem Denken.
Diese Eigenschaften wurden von ihrer Mutter Renilde, die selbst eine belesene und ziemlich moderne Frau war, befördert. Sie widmete sich mit viel Engagement der Entwicklung ihrer Tochter und unterstützte ihre Bestrebungen gerne. Der Vater Alessandro war konservativer und konnte Marias exzentrischen Träumen eher wenig abgewinnen.
Der Entschluss der Tochter, ein so „maskulines“ Studium wie das der Medizin aufzunehmen, führte zu einer jahrelangen Entfremdung zwischen den beiden.
Eine Pionierin in vielen Belangen
Die meisten Männer in Montessoris Umfeld waren, wie ihr Vater, der Meinung, eine Frau gehöre ins häusliche Umfeld. Dass die junge Maria bis zum Abitur zur Schule ging, wurde noch wohlwollend beäugt. Doch als sie dann das völlig unfeminine Medizinstudium aufnehmen wollte, ließ man sie zunächst nicht zu.
Doch Maria Montessori setzte sich durch und musste sich dann gegen die Schikanen ihrer durchwegs männlichen Kommilitonen behaupten, was ihr souverän gelang. Von da an ließ sich die junge Frau nicht mehr von Konventionen oder Rollenerwartungen davon abhalten, ihren Weg zu gehen.
Sie promovierte als eine der ersten Frauen in Italien, engagierte sich in der europäischen Frauenbewegung, stellte ein staatliches Programm für Kinder mit Behinderung auf die Füße – und entwickelte eine pädagogische Philosophie, die bald über die Grenzen Europas hinaus bekannt war.
Wieso ausgerechnet Kinder?
Als junge Ärztin interessierte sich Maria Montessori für viele Bereiche der Medizin, auch wenn sie sich früh auf Pädiatrie spezialisierte. Sie arbeitete als Assistenzärztin im Krankenhaus und hatte nebenher eine eigene Praxis. Das allein war außergewöhnlich, aber noch außergewöhnlicher war ihr unbändiges Engagement. Ihr Ehrgeiz verband sich mit dem (auch religiös motivierten) Wunsch, den Unterprivilegierten zu helfen.
So brachte Montessori oft halbe Tage bei ihren PatientInnen zu und sorgte auf umfassende Weise um sie. Als sie anfing, mit Kindern zu arbeiten, die als geistig zurückgeblieben und gefährlich für die Gesellschaft gehalten wurden, zeigte sie sich ebenso engagiert. Sie setzte sich dafür ein, dass Kinder mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen in speziellen Institutionen unterrichtet würden.
Und sie selbst entwickelte Lehrmethoden, um zuerst die Sinne und dann den Intellekt dieser Kinder anzuregen: Das erste Montessori-Material wurde geboren. Es handelte sich wohl um Buchstaben aus Holz, die der Alphabetisierung dienten. Zu dieser Zeit interessierte sich Montessori sehr für Pädagogik, Anthropologie und Philosophie und schrieb sich deshalb wieder an der Universität ein.
Sie fing bald an, ihre Erkenntnisse und Methoden auch auf Kinder umzulegen, die der Norm entsprachen. 1907 wurde in Rom eine erste “Casa dei Bambini” eröffnet (dt. “Haus der Kinder), in dem die Kinder berufstätiger Eltern betreut wurden. Montessori wurde die Leitung übertragen. Von da an explodierte ihre pädagogische Neigung in ein Feuerwerk aus neuen Materialien, Texten und Ideen.
Montessori beobachtete, dass die meisten Kinder liebend gerne Übungen des täglichen Lebens wie Saubermachen und Sich-Anziehen ausführten. Spielsachen waren dagegen nicht besonders beliebt. Sie konnte außerdem erleben, wie konzentriert und leidenschaftlich Kinder ganz auf sich gestellt lernen und arbeiten, wenn die Umgebung das zulässt.
Als Ärztin hatte Montessori schon eine Reihe von Fachartikeln zur Frage von jugendlichen Kriminellen und anderen Themen veröffentlicht. Jetzt schrieb sie erstmals auch pädagogische Werke. Ihr erstes Buch ist als “Il metodo” (voller Titel “Il metodo della pedagogia scientifica”) in die Geschichte eingegangen. Es werden noch zehn weitere Bücher, darunter ihr persönliches Handbuch und Abhandlungen zu Erziehung und Religion sowie Erziehung zum Frieden.
Maria Montessori selbst beantwortete die Frage “Warum Kinder?” übrigens mit einer fast schon mystischen Erzählung: In einer schwierigen Zeit während ihres Medizinstudiums begegnete sie in einem winterlichen Park einer Bettlerin und ihrem Kind. Das Kleine spielte völlig selbstvergessen mit einem bunten Papierfetzen. Dieses Erlebnis schien in Montessori eine tiefgreifende Veränderung auszulösen, und schon bald darauf, fing sie an, sich mit Kinderpsychologie zu befassen.
Eine Biografie mit Brüchen, Ecken und Kanten
Über eine sehr lange Zeit wusste niemand, dass die unermüdlich arbeitende junge Ärztin Maria Montessori selbst Mutter war. Ihr Sohn Mario entsprang einer unehelichen Beziehung zu ihrem Kollegen Giuseppe Montesano. Die emanzipierte junge Frau wollte nicht heiraten und damit ihre beruflichen Aussichten einer Familie opfern.
Trotzdem wollte sie mit Giuseppe und Mario zusammensein. Doch als Giuseppe eine andere Frau heiratete, sah sie sich gezwungen, ihren Sohn bei einer Amme auf dem Land unterzubringen. Diese Entscheidung, die ja dem katastrophalen Status unverheirateter Mütter geschuldet war, wurde Montessori später oft angelastet.
Wie konnte sie sich so für fremde Kinder engagieren und ihr eigenes völlig vernachlässigen? Ganz so einfach war es natürlich nicht.
Doch erst als Mario schon fast erwachsen war, holte sie ihn zu sich und er wurde später einer ihrer engen Mitarbeiter. Er jedenfalls scheint seiner Mutter ihre Entscheidung nicht übermäßig übel genommen zu haben.
Das Bekenntnis zu Mario fällt mit dem Zenit ihres Erfolgs zusammen. 1913 reist Montessori sogar in die Vereinigten Staaten, wo sie mit großem Enthusiasmus und einem Medienrummel empfangen wird. Nachdem Modellschulen in New York und Paris aufgebaut werden und “Il Metodo” sogar in Argentinien ankommt, verliert sich ihre Bekanntheit wieder. Nach der Zäsur des ersten Weltkrieges spricht kaum mehr jemand von der faszinierenden Signorina Montessori. Dessen ungeachtet arbeitete sie weiter am Aufbau einer europaweiten Bewegung.
Sie lebt mit Mario in Barcelona, reist aber laufend nach Italien: Mussolini hält viel von ihrer Methode und will, dass sie in ganz Italien umgesetzt wird. Auch in Deutschland wird eine Montessori-Gesellschaft gegründet und neue Schulen entstehen. Doch die Nationalsozialisten bereiten dem ein Ende, und bald schließen auch die italienischen Faschisten alle Montessori-Schulen. Als Franco die Macht in Spanien übernimmt, zieht Montessori mit ihrem Sohn nach Amsterdam.
Die Niederlande werden über viele Jahrzehnte ein Zentrum der Montessori-Bewegung bleiben. Für Maria Montessori werden sie zur zweiten Heimat und Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit. Doch vorerst verbringt sie noch fast zehn Jahre in Indien, von 1939 bis 1949. Diese Zeit hat sich wohl besonders in ihrer “Kosmischen Erziehung” niedergeschlagen und wer will, kann durchaus auch hinduistisch oder buddhistisch geprägte Ansätze daraus ablesen.
Montessori stirbt 1952 in den Niederlanden. Ihr Sohn Mario übernimmt ihre Agenden für die nächsten Jahrzehnte und sichert das Überleben ihrer mehr als außergewöhnlichen Arbeit.