Die sensiblen Phasen nach Montessori

Wenn du dein Kind gerne (ein wenig) nach Maria Montessori erziehen möchtest, stößt du häufig auf den Ausdruck „sensible Phase“. Dieses Konzept ist theoretisch so fest in die Montessori-Pädagogik eingebettet wie es der Grundsatz „Hilf mir, es selbst zu tun“ normativ ist. Und tatsächlich steht hinter diesem so gerne gebrauchten Ausdruck eine ganze Theorie, die in Ausläufern bis in den Bereich der Neurophysiologie reicht. 

Allerdings ist es nicht nötig, sich auf einer so tiefen Ebene mit dem Thema auseinanderzusetzen, wenn man vornehmlich das eigene Kind in seinen sensiblen Phasen unterstützen möchte. 

Was du zu diesem Zweck unbedingt über diese geheimnisvollen Vorgänge im Inneren (und dann auch im Verhalten) deines Sohnes oder deiner Tochter wissen solltest, haben wir hier für dich zusammengefasst.

Was ist eine sensible Phase?

Tatsächlich ist der Begriff der sensiblen oder „sensitiven“ Phase ein wenig irreführend. Denn eine solche Phase äußert sich weder dadurch, dass ein Kind währenddessen besonders sensible ist, noch handelt es sich um das, was wir umgangssprachlich eine „Phase“ nennen. 

Vielmehr meint der Begriff einen langen, manchmal monate- oder jahrelangen Zeitraum, in dem sich ein Kind mit besonderem Enthusiasmus und ungewöhnlicher Ausdauer selbstgerichtet eine neue Fertigkeit aneignet oder ein bestimmtes Interesse befriedigt. Die sensible Phase für das Schreibenlernen dauert zum Beispiel mehrere Jahre und äußert sich grob gesagt  dadurch, dass das Kind von sich aus unbedingt schreiben möchte oder sich vermehrt verwandten Tätigkeiten (wie zeichnen oder lesen) zuwendet. 

„Sensibel“ ist dieser Zeitraum deshalb, weil ein Kind währenddessen extrem aufnahmebereit für bestimmte Fertigkeiten und Eindrücke ist – und die Sensibilität kehrt in dieser Form nie mehr zurück, wenn die Phase einmal vorbei ist. Es ist also entscheidend, ein Kind während einer solchen Phase bestmöglich zu fördern und anzuregen, denn hinterher wird das Erlernen einer Fähigkeit wie etwa des Schreibens ungleich viel schwieriger für die Person.

Wie erkenne ich eine sensible Phase?

Nach Montessori unterteilt sich jede sensible Phase nochmals in drei Subphasen. Das Kind beginnt, sich einem bestimmten Aspekt seiner Umwelt mit besonderem Interesse zuzuwenden und beobachtet dabei mit einer auffälligen Intensität. Anschließend beginnt es, selbst tätig zu werden, wobei es unter einem sichtlichen „Wiederholungszwang“ steht. 

Es führt die neue Fertigkeit viele hundert Male aus, bis sich sein Verhalten zu einer Phase äußerster Konzentration steigert, in dem das Können nahezu explodiert: das Kind hat etwas Neues gelernt.

Die sensiblen Phasen der ersten 6 Lebensjahre

Ordnung

Die sensible Phase für Ordnung beginnt schon im Mutterleib und setzt sich bis zum fünften Lebensjahr fort. Zunächst bedeutet der gesteigerte Sinn für Ordnung die Fähigkeit, in einer als chaotisch erlebten Welt zuverlässige Muster und Strukturen zu finden – diese „Arbeit“ passiert unbewusst in den ersten Lebensmonaten. 

Ab etwa zwei Jahren entwickelt sich auch ein Grundbedürfnis nach räumlicher Ordnung und zeitlicher Struktur sowie ein enormes Interesse am Auflösen und Wiederherstellen von Ordnung. Du kannst dein Kind vom Babyalter an am besten mit klaren Strukturen im Tagesablauf und einer verlässlichen räumlichen (An-)Ordnung unterstützen. 

Ab etwa zwei Jahren sind auch Spiel- und Lernmaterialien, in denen ein kreativer Umgang mit Mustern und Strukturen gefragt ist eine große Bereicherung für dein Kind.

Bewegung

Die buchstäblich größten Schritte im Bereich der Motorik macht ein Kind in seinen ersten zwölf bis 18 Lebensmonaten. Es entwickelt sich von einem recht hilflosen Neugeborenen zu einem vollkommen mobilen Kleinkind, das laufen, klettern, tanzen und springen kann. 

Am besten hilfst du deinem Baby, indem du seinen Drang nach Bewegung nicht unterbindest, aber es auch nicht zum Sitzen, Krabbeln oder Gehen animierst, wenn es von sich aus keine Anstalten dazu macht. In die vorbereitete Umgebung gehören reichlich Platz, eine große Decke am Boden und später viele mögliche „Stützen“ fürs Aufstehen.

Sprache

Auch für das gesprochene Wort ist ein Kind schon im Mutterleib empfänglich. Nach der Geburt nimmt es zunächst immer differenzierter wahr und merkt dann schon bald, dass es selbst Töne hervorbringen kann. 

Einen vorläufigen Höhepunkt erreicht die Sprachentwicklung mit dem Lallen von Silben zu Ende des ersten Lebensjahres, gefolgt von den ersten richtigen Wörtern. Mit etwa zweieinhalb entwickeln sich dann die Grammatik und der Wortschatz deines Kindes ganz rasant. Die erhöhte Aufnahmebereitschaft für Sprachen besteht bis zum Alter von sechs Jahren. 

In dieser Zeit lernen Kinder auch mehr als eine Sprache schnell, problemlos und meistens auch völlig akzentfrei.

Sinnliche Erfahrung

Irgendwann im dritten Lebensjahr setzt die sensible Phase für die verschiedensten Sinneseindrücke ein. Dein Kind hört und sieht nicht nur sehr bewusst und präzise, auch das Bedürfnis nach taktiler Anregung und nach unterschiedlichen Gerüchen und Geschmäckern will befriedigt werden. 

Das Spiel in der freien Natur ist sehr wichtig für die Sinnlichkeit und die Arbeit mit Sand, Wasser, Erde und Pflanzen sollte nicht unterbunden, sondern oft ermöglicht werden. 

Und wenn es das möchte, kannst du dein Kind auch beim Kochen oft zu dir holen, den Essen ist natürlich ein besonders starker sinnlicher Eindruck auf verschiedenen Ebenen.

Kleine Objekte oder Details

Ab etwa dem ersten Geburtstag entwickelt ein Kind oft eine intensive Liebe für sehr kleine Gegenstände oder Details. Zugleich ist dies ein Alter, in dem kleine Objekte bei Verschlucken eine gewisse Gefahr darstellen. 

Trotzdem ist es ausgesprochen wichtig, dass dein Kind etwa mit Murmeln oder kleinen Formen und Figürchen spielen kann, idealerweise unter deiner Aufsicht, dann kann auch nichts passieren. Übrigens können auch Wimmelbücher oder -bilder dieses Interesse oft gut befriedigen. 

Auch Lernmaterialien mit Verschlüssen, Haken und Ösen, Schleifen und Knöpfen sind zu dieser Zeit oft beliebt.

Räumlichkeit

Die Wahrnehmung von Räumlichkeit, von bestimmten Formen und ihrer Veränderlichkeit beginnt schon in den ersten Lebensmonaten. Ein konzeptionelles Verständnis für räumliche Anordnung, aber auch eine gewisse Orientierung im eigenen Stadtteil oder Dorf entsteht im dritten Lebensjahr.

Soziales Verhalten

Das richtige oder sozial erwünschte Verhalten in bestimmten Kontexten wird im dritten Lebensjahr zu einem nachvollziehbaren und interessanten Konzept. Langsam lernen Kinder, ihre Impulse ein wenig zu kontrollieren und sich bewusst auf eine bestimmte Art zu verhalten. Außerdem beginnt es, die Reaktionen anderer Menschen zu verstehen und – besonders wichtig – ihr Verhalten zu imitieren. 

Was für alle sensiblen Phasen gilt, muss hier eigens dazu gesagt werden: das Interesse des Kindes kommt von selbst und entzündet sich am Vorbild und an sanfter Anregung. Disziplinierung und Konditionierung sind beim Sozialverhalten genauso wenig nötig wie bei der Musikalität.

Mathematik

Eine erhöhte Aufnahmebereitschaft für numerische und mathematische Konzepte besteht laut Montessori ab der Geburt. Befriedigen kannst du dieses Interesse etwa mit den Montessori-Mobiles für Babys. Im zweiten Lebensjahr explodiert dieses zunächst unbewusste Verständnis für Einzahl, Mehrzahl und das Zählen. 

Wichtig dafür ist nämlich das Bilden von Kategorien  oder Begriffen (etwa Kugel, Blume oder Banane), damit anschließend Dinge einer Sorte abgezählt werden können. Diese Phase tritt ganz von alleine ein und braucht keine spezielle Förderung von deiner Seite.

Schreiben

Die sensible Phase für das Schreiben beginnt – für viele überraschend – lange vor dem Schuleintritt und endet in der Regel auch wieder davor. 

Am besten und schnellsten lernen Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren schreiben.

Lesen

Das Lesenlernen passiert versetzt zum Schreibenlernen. Erst Maria Montessori hat entdeckt, dass das Schreiben dem flüssigen Lesen vorausgehen muss. Kinder lernen Lesen also nicht passiv, sondern dadurch, dass sie selbst aktiv etwas Lesbares produzieren. Die brennende Leidenschaft fürs Lesen entsteht also aus dem Interesse am Schreiben. 

Zusätzlich anregen kannst du dein Kind natürlich, indem du ihm schon ab dem Babyalter vorliest und mit ihm Bücher anschaust. Und natürlich lernt es auch anhand deines Vorbilds und wird sich eher für Bücher begeistern, wenn du selbst öfters eines in der Hand hältst.

Musik

Die Begeisterung für Musik erwächst bei Kindern im späten zweiten oder frühen dritten Lebensjahr völlig spontan. Wie bei der Sprache beginnt diese sensible Phase mit äußerst konzentriertem Zuhören und mündet dann in häufigem und mitunter recht „experimentellem“ Gesang. 

Anschließend lernt das Kind, ganze Lieder zu singen. Wie beim Lesen ist auch hier die richtige, beiläufige Anregung sehr hilfreich. Du kannst mit deinem Kind ja schon vor der Geburt und die ganzen ersten Lebensjahre hindurch häufig Musik hören und ihm, wenn du das magst, auch vorsingen.

Abschließende Worte

Die sensiblen Phasen lassen sich natürlich noch weiter differenzieren (es gibt etwa eine bestimmte Phase fürs Krabbeln und eine fürs Gehen etc.) und bestimmt fallen dir als Mutter oder Vater Verhaltensweisen auf, die an eine sensible Phase erinnern, aber sich auf einen hier nicht genannten Bereich beziehen – so ist z. B. die sensible Phase für das Benützen der Toilette eine ganz besonders wichtige für euch. 

Die erworbenen Fertigkeiten bleiben dem Kind ein Leben lang erhalten und entwickeln sich weiter. In den späteren Altersstufen gibt es außerdem weitere sensible Phasen, insbesondere für soziales Verhalten. Aber die grundlegendsten und wichtigsten Fähigkeiten entwickeln sich in den ersten sechs Lebensjahren. Und das Tolle daran ist, dass es ganz von alleine passiert. 

Als Eltern müsst ihr nur Bescheid wissen und für die notwendigen Materialien sorgen. Alles andere erarbeitet sich dein Kind aus ganz eigenem Antrieb.

Über die Autorin

Ich bin Susannah und schreibe für diesen wunderbaren Blog. Als Erziehungswissenschaftlerin und Mama suche ich stets nach Wegen, wie der Alltag mit Kind sich ruhig und authentisch gestalten lässt. Montessori kann hier viele großartige Impulse liefern, aber man darf sie auch ein wenig „gegen den Strich bürsten“ und zeitgemäß interpretieren. Ich habe die Hoffnung, dass der eine oder andere Artikel hier im Blog zu einem „Hilf mir, es selbst zu tun“ für Eltern werden kann.

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