Der „absorbierende Geist“ ist ein wichtiges und hochspannendes Konzept in der Montessori-Pädagogik. Es ist sogar der Original-Titel eines der bekanntesten Werke von Maria Montessori, „Das kreative Kind„. Das Buch wurde zuallererst in Indien unter dem Titel „The absorbent mind“ publiziert. Montessori beschreibt darin das Wunder des kindlichen Geistes, das für sie mit dem erwachsenen kaum vergleichbar ist – weil er so stark absorbiert.
Was das genau bedeutet und wie sich der Geist am besten entfalten kannst haben wir in den nächsten Punkten einfach zusammengefasst.
Was ist der absorbierende Geist?
Die geistige Entwicklung eines kleinen Kindes zu beschreiben und zu verstehen ist gar nicht so einfach. Es ist aber recht sicher, dass Wahrnehmung und Kognition anfangs recht unstrukturiert sind. Genau in dieser Zeit, bis zu einem Alter von etwa drei Jahren, nimmt der Geist des Kindes alles auf wie ein Schwamm: er absorbiert. Zu Montessoris Zeiten sagte man in der Psychologie, für das Lernpensum eines Kindes in den ersten drei Lebensjahren würde ein erwachsener Mensch sechzig Jahre brauchen.
Das hat womöglich auch mit der unglaublichen Präsenz kleiner Kinder zu tun. Es gibt in diesem Alter noch keine Abwesenheiten und Träumereien. Was unmittelbar da ist, wird erlebt, und das ist natürlich großartig für die geistige Entwicklung.
Allerdings verfügen auch noch ältere Kinder im Grundschulalter über die Fähigkeit zum schnellen und instinktiven “Aufsaugen” von Information.
Wie zeigt sich der absorbierende Geist?
Kinder können unfassbar vertieft arbeiten. Die polarisierte Aufmerksamkeit ist eine Art, wie sich der absorbierende Geist ausdrückt.
Sehr oft scheint das Absorbieren aber auch wie nebenbei zu geschehen. Bei Kleinkindern, deren Sprachentwicklung gerade mit Siebenmeilenstiefeln voranschreitet, zeigen sich oft erstaunliche Phänomene: Das Kind hat in einem beiläufigen Gespräch, dem es gar nicht offenkundig gefolgt ist, ein neues Wort aufgeschnappt.
Auch nach nur einmaligem Hören kann es das Wort verständlich und oft auch ganz richtig einsetzen. Ähnlich funktioniert es mit dem Begreifen von natürlichen und sozialen Zusammenhängen.
Oft ist man völlig überrascht, wie das Kind so komplexe Erkenntnisse ableiten konnte, ohne dass man als Erwachsener viel erklären oder belehren musste. Hier ist ohne Zweifel der absorbierende Geist am Werk.
Was tut der absorbierende Geist genau?
Das prominenteste Beispiel für die unglaubliche Aufnahmekraft des frühkindlichen Verstandes ist der Erwerb der Sprache. Montessori selbst nennt dieses unbestreitbar faszinierende Phänomen: Es ist nicht möglich, durch Unterricht eine Sprache mit der gleichen Sicherheit und dem gleichen tiefen Verständnis zu erlernen wie die eigene Muttersprache.
In den ersten paar Lebensjahren eignet sich ein Mensch scheinbar mühelos (in Wirklichkeit aber mit größter Konzentration und durch beharrliche Wiederholung) eine und in manchen Fällen sogar zwei oder drei Sprachen an. Und er spricht und versteht diese Sprache(n) in einer Perfektion, die später unerreichbar ist. Das ist das Werk des absorbierenden Geistes.
Allerdings spielt er seine Rolle nicht nur in der sprachlichen Entwicklung. Ein Mensch wird in eine Welt hineingeboren, die für ihn zunächst reine, undifferenzierte Sinneserfahrung ist. Binnen weniger Monate hat das Kind seiner Umwelt selbst Sinn und Struktur verliehen.
Es bildet Kategorien, kann von einem Tag auf den anderen Objektarten und Personen voneinander unterscheiden, und lernt, sich zu orientieren.
Wie kann man den absorbierenden Geist fördern?
Maria Montessori ist sich recht sicher, dass der absorbierende Geist eine geniale Erfindung der Natur ist. Sie erlaubt dem Kind, sich allen wohlmeinenden Förderversuchen und Belehrungen von außen zu entziehen und seinem eigenen inneren Lehrplan zu folgen – so weit die Theorie.
Wir können auf jeden Fall festhalten, dass sich die geistige Entwicklung eines Kleinkindes einer direkten Einflussnahme entzieht.
Es ist nicht möglich, das Absorbieren zu “beschleunigen” oder zu “verbessern”.
Und es kann auch nicht völlig verhindert werden, sofern jemand das versuchen wollte.
Doch natürlich muss ein Kind eine Welt vorfinden, die seinem Geist zuträglich ist. Und das ist in erster Linie eine soziale Welt. Diese steht dem Forscherdrang und der Neugier des Kindes am besten liebevoll und anerkennend gegenüber.
Es ist wunderbar, wenn die wichtigsten Bezugspersonen sich auf die Entdeckungsreise der kleinen Person einlassen und sie immer wieder ein wenig mitmachen können. Kommuniziert werden kann dabei nie genau, solange beide Seiten ausreichend zu Wort kommen.
Laufende positive Verstärkung ist dagegen unnötig.
Welche Bedingungen braucht er für seine Entfaltung?
Er braucht vor allem viel, sehr viel Anregung und „Nahrung“ – Dinge, die er absorbieren kann. Montessori kritisiert auf Heftigste, dass Erziehung und Bildung fernab der realen Welt in Isolation vonstatten geht. Am besten lernt ein Kind aus der Fülle des Lebens, aus der Natur, dem praktischen Alltag, dem ständigen Umgang mit Menschen.
Siehe dazu auch: „Die Rolle der Natur in der Montessori Pädagogik“
Wenn Kinder dagegen von Anfang an am richtigen Leben teilhaben dürfen, mit allem, was das umfasst, von Hausarbeit über Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben bis hin zur Pflege von Tieren und Pflanzen, dann lernt es mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit.
Wenn ihr Montessori zu Hause praktiziert, ist der wichtigste Grundsatz also, dass dein Kind ab dem Säuglingsalter am Alltagsleben teilhaben und seine Neugier befriedigen darf. Grenzen werden da gezogen, wo sie nötig sind.
Der größte Feind der ganzheitlichen Entwicklung ist die Verbannung in eine Welt der Kinder, in der Arbeit und Verantwortung keinen Platz haben.
Der absorbierende Geist und Medien
Natürlich lernt ein Kind auch aus Medien (zu denen ja auch Bücher zählen) und absorbiert das Gesehene und Gehörte im Detail. Das ist für sich genommen kein Problem.
Doch trotzdem ergeben Studien zum Thema oftmals, dass Kinder, die häufig fernsehen oder Videos ansehen, in der Sprachentwicklung eher verzögert sind. Ein Problem könnte das sein, dass Medienkonsum ein Kind in die Passivität zwingt. Fernseher und Handy fordern keine Reaktion oder Manipulation, sie eröffnen keine unmittelbaren Handlungsspielräume.
Die Lösung lautet dann aber nicht, Medien zu verbieten, sondern aktiv und in Gemeinschaft zu konsumieren. Wenn ihr das Gesehene hinterher besprecht oder nachspielt, ist das für die intellektuelle Entwicklung insgesamt sehr wahrscheinlich ein Gewinn.