Wenn wir ein Kind befreien, schreibt Maria Montessori, befreien wir einen Arbeiter (oder eine Arbeiterin), der/die sich voll Begeisterung in die Aktivität stürzt, immer auf der Suche nach einer sinnvollen und erfüllenden Tätigkeit. Aber was heißt es, ein Kind zu befreien? Wie viel Freiheit ist möglich, wie viele Grenzen sind nötig? Diesen viel diskutierten Fragen wollen wir hier nachgehen.
Was Freiheit nicht ist…
- Montessori meint mit Freiheit nicht, dass eine Person einfach tun kann, was sie will.
- Sie meint damit nicht, dass Regeln und Strukturen der Freiheit des einzelnen untergeordnet sind.
- Sie meint damit auch nicht, dass ein Kind (oder eine erwachsene Person) alles ausprobieren soll, was ihm/ihr in den Sinn kommt.
Der dritte Weg
Simone Davies, die sich als Autorin zum Leben nach Montessori einen Namen gemacht hat, meint zur Frage der Freiheit Folgendes: Die Montessori-Pädagogik sei ungefähr in der Mitte zwischen Laissez-faire und autoritärer Erziehung angesiedelt. Man könnte auch sagen: Montessori stellt einen dritten Weg dar.
Beide Haltungen, autoritär und permissiv, sind im Kern nicht besonders respektvoll; für Montessori ist der Respekt vor dem Kind als Person allerdings zentral. Von seiner Wurzel her bedeutet Respekt eine Art Hochachtung, die aus genauer Beobachtung und Einschätzung erwächst.
Das ist eigentlich der entscheidende Punkt bei Montessori: Wir müssen die uns anvertrauten Kinder wirklich als das sehen und achten, was sie sind.
Freiheit auf drei Ebenen
Ein freies Kind, so meint Montessori, ist eines, das seiner Natur folgt und dem inneren Drang zur Weiterentwicklung folgen kann.
Montessori-Kinder sind frei im dreifachen Sinn:
Motorisch-körperlich
Als Ärztin war Montessori die Körperlichkeit des Kindes ein besonderes Anliegen. Sie bestand deshalb ausdrücklich darauf, dass Kinder körperlich frei und nicht an die Schulbank gefesselt sein sollten. Vielmehr sollten sie ihren Arbeitsort und die Arbeitszeiten selbst wählen dürfen und sich auch um die eigenen körperlichen Bedürfnisse kümmern dürfen.
Alles andere (ein Kind füttern, es waschen, anziehen oder ins Bett legen, wenn es all das eigentlich selbst tun kann) ist im Kern autoritär.
Geistig, in Bezug auf ihre Interessen
Im Gegensatz zur Regelschule ihrer Zeit ließ Montessori die Kinder in ihren Case dei Bambini selbst wählen, womit sie sich beschäftigen wollten. Dabei war es nicht nur in Ordnung, sondern sogar erwünscht, wenn jedes Kind der eigenen Entwicklung gemäß individuell für sich arbeitete.
Sensible Phasen und spezielle Interessen werden respektiert und nur durch zwanglose Anregung in neue Richtungen gelenkt.
Psychisch, in Bezug auf sich selbst und ihre Mitmenschen
Montessori lehnt jede Art von Strafe oder Belohnung, kurz jede extrinsische Motivation ab. Auf ein Kind darf kein Zwang oder Druck ausgeübt werden, nur weil es kleiner und schwächer ist – es ist ein Mensch unter Menschen und wird auch so behandelt.
Wird ein Kind respektiert, lernt es auch, sich selbst zu respektieren.
Wird es ohne Herablassung geliebt, entwickelt es echten Selbstwert. Dadurch bleibt es innerlich frei und muss sich nicht anpassen, um sich sicher zu fühlen. Kinder, die nach Montessori erzogen werden, können sich zu sehr offenen und herzlichen, dabei aber unabhängigen und unkorrumpierbaren Menschen entwickeln.
Das Geheimnis der Freiheit
In aller Welt hat sich in Montessori-Einrichtungen das bestätigt, was die Maestra selbst früh verkündet hat: Freiheit führt nicht zu Faulheit oder Anarchie, ganz im Gegenteil.
Jene Kinder, die sich innerhalb eines klaren Rahmens frei entwickeln dürfen, zeigen häufig viel Disziplin, Enthusiasmus und Sinn für Ordnung.
Das, was wir an der Freiheit so fürchten – Destruktivität, Chaos oder Beliebigkeit – tritt nicht ein. Sie sind vielmehr Ausdruck von Unterforderung, Frustration oder einer falschen Form der Freiheit.
Bei Montessori aber bedeutet „Freiheit“, sich entwickeln dürfen, Neues lernen können, den eigenen Interessen folgen und für andere nützlich sein dürfen.
Unsere Freiheit wird natürlicherweise in bestimmte Bahnen gelenkt. Wir können nämlich nicht einfach frei aus den unendlich vielen Möglichkeiten wählen, die die Welt uns ständig anzubieten scheint.
Nein, wir folgen als Menschen schon vor der Geburt einem bestimmten Entwicklungsplan, und unser Wille äußert sich genau im Drang, unsere Entwicklung voranzutreiben.
Das bedeutet im Klartext:
- Der Drang zur Freiheit und die oft irrational scheinenden Impulse eines Kindes sind für sich gut. Sie drücken das Wesen des Menschen und sein großartiges Potenzial aus. Wir müssen unsere Kinder also nicht einschränken oder brechen.
- Der zentrale Zweck der Erziehung ist es, dem inneren Entwicklungsplan zur Verwirklichung zu verhelfen. Das klingt zwar einfach, braucht aber sehr viel Beobachtung, Verständnis, Empathie und Kreativität bei der Vorbereitung der Umgebung.
Welche Grenzen muss ich als Bezugsperson eines Kindes ziehen?
Wer laufend mit einem impulsiven Kleinkind oder einem unternehmungslustigen Sechsjährigen zu tun hat, der weiß, dass Grenzen ziehen die Kür jeder Erziehungsarbeit darstellt. Nirgends ist es schwieriger, den richtigen Ton zu treffen, die richtigen Worte zu finden, die eigenen Gefühle im Griff zu behalten.
Für Kinder ist es allerdings viel einfacher, mit konsistenten, klaren Grenzen umzugehen als mit häufig wechselnden, situationsabhängigen Verboten.
Einer der Grundgedanken von Montessori ist der, dass bereits die Umgebung diese Strukturen vorgibt. Dadurch passiert es viel seltener, dass ein Kind sich oder andere in Gefahr bringt oder achtlos ist.
Innerhalb der vorbereiteten Umgebung ist ein Kind fast vollständig frei. Wenn das bei dir schreckliche Visionen von einem zerbrochenen Wasserspender, auf dem ganzen Boden verstreuten Holzperlen, mit Sand aus der Schreibwerkstatt bestreut, hervorruft: Nicht nur die Umgebung wird vorbereitet, sondern auch der Umgang damit. Anhand unseres Vorbildes lernt ein Kind, wie man mit bestimmten Gegenständen umgeht. Es möchte wissen, wozu all die Objekte gebraucht werden, und es möchte sie selbst handhaben.
Wenn Gefahr besteht, dass jemand verletzt wird oder etwas kaputt geht, müssen wir selbstverständlich Grenzen setzen: Ruhig, klar, ohne Herablassung – und, wenn nötig, mit vollem Körpereinsatz.
Denn mehr als alles wollen wir sehen, wie unsere Kinder sich entfalten. Uneingeschränkte Freiheit ist dazu bestimmt nicht nötig. Aber dafür der liebevolle Blick eines starken, autoritativen Gegenübers, das weiß: Du bist eine Person, vom ersten Atemzug an. Du bist nicht weniger als ich, nur weil du kleiner bist.