Wenn wir mit der Pädagogik von Maria Montessori oft Bilder von Kindern verbinden, die konzentriert mit hölzernem Lernspielzeug hantieren oder in einer penibel vorbereiteten Umgebung ihre eigene „Hausarbeit“ erledigen, vergessen wir gerne auf die wichtigste Lehrmeisterin des Kindes: Die Natur. Bewegung im Freien, das forschende Spiel mit Naturmaterialien und die genaueste Beobachtung von Tieren und Pflanzen gehören zur Montessori-Pädagogik mindestens ebenso sehr wie der rosarote Turm.
Das aufmerksame Sein in natürlichen Umgebungen – bevorzugt Wald, Wiese und Wasser – bleibt aber bis zuletzt ein zentraler Teil der kosmischen Erziehung. Und es wird schon vom ersten Lebensjahr an als absolute Grundlage für jedes naturwissenschaftliche Verständnis wie auch jegliches ethische Handeln etabliert.
Vielleicht hast du davon gehört, dass es an vielen Montessori-Kinderhäusern oder –Schulen fixe Wochentage gibt, wo die Kinder zumindest mehrere Stunden oder den ganzen Tag im Freien verbringen.
Diese Institution – der sogenannte Wald- oder Naturtag – dient weder der Entspannung noch ausschließlich der körperlichen Ertüchtigung: Er ist das eigentliche Kernstück der kosmischen Erziehung.
Was bedeutet das „Erleben der Natur“ konkret?
Die kosmische Erziehung basiert darauf, dass das Kind die Natur mit ihren vielfältigen Prozessen aus nächster Nähe und mit allen Sinnen wahrnehmen und erforschen kann. Zu ihrer Zeit kritisierte Maria Montessori jene Eltern und ErzieherInnen, die ihre Schützlinge nur zur Förderung der Gesundheit mit nach draußen nahmen und ihnen intensivere Naturerlebnisse verwehrten – und, seien wir ehrlich, diese pädagogische Haltung ist auch heute noch manchmal anzutreffen.
In „Von der Kindheit zur Jugend“ berichtet Montessori von einem Kind, das sich sehnsüchtig wünscht, einmal die Sterne betrachten zu dürfen, von seinen Eltern aber stets ins Bett geschickt wird, sobald es dunkel wird. Sie aber plädiert dafür, Kindern solche und ähnliche Erfahrungen zu ermöglichen, auch wenn es bedeutet, unkonventionell zu sein oder sich aus der eigenen Komfortzone hinauszubegeben.
Es bedeutet manchmal auch, gegen die Bequemlichkeit des Kindes anzugehen und es beispielsweise bei heftigen Regengüssen, kalten Temperaturen oder im Morgengrauen mit nach draußen zu nehmen. Jede dieser Erfahrungen wird ihm die Natur und den eigenen Körper auf neue Weise zugänglich machen.
Vor allem aber meint Maria Montessori, dass man Kindern im Umgang mit der Natur eine große Freiheit zugestehen sollte: Ihrer Neugier auf die verschiedenen Erscheinungen und Prozesse der Natur sollte nur da Einhalt geboten werden, wo sie sich selbst oder andere gefährden könnte. Wenn ein Kind also barfuß in einem Bach oder im Schlamm waten möchte, sollten Eltern oder ErzieherInnen es gewähren lassen – ebenso, wenn es einmal versuchsweise im Freien übernachten oder einen hohen Baum erklimmen möchte. Je vielfältiger die Erlebnisse in der Natur desto „kosmischer“ das wachsende Bewusstsein des Kindes.
Die konkrete Erfahrung der Natur muss sich übrigens nicht auf das momentane Vergnügen beschränken; mit zunehmendem Alter können die Erlebnisse systematischer werden und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Z.B. kann man mit Kindern über mehrere Wochen hinweg das Wachstum einer einzelnen Pflanze oder die Abläufe in einem Bienenstock beobachten.
Natur erfahren im Alter von o-6 Jahren
Für Babys und Kleinkinder ist das Sein in der Natur zunächst eine radikal sinnliche Angelegenheit. Schon wenige Wochen alte Kinder staunen über das Spiel der grünen Blätter im Wind oder lauschen konzentriert dem Plätschern eines Baches. Nach wenigen Monaten können Babys Tiere erkennen und als Lebewesen wahrnehmen – und mit etwa neun Monaten wird die Begeisterung für alles, was ein Fell, Flügel oder viele Beine hat geradezu überschäumend.
Auch der Wald entpuppt sich als äußerst faszinierende Umgebung; bei Bächen und anderen Gewässern reicht das Beobachten bald nicht mehr aus: Das Kind möchte alles ganz buchstäblich begreifen, die Füße ins Wasser strecken, die Rinde des Baumes streicheln und an den Blumen schnuppern. Als Mutter oder Vater musst du nicht viel mehr tun als dein Kind so oft als möglich mit nach draußen zu nehmen und ihm beim Kennenlernen von Lebewesen und Elementen viel Zeit zu lassen.
Im zweiten Lebensjahr wird das Interesse an den Naturerscheinungen immer intensiver und die Beobachtung immer präziser. Bald kann das Kind benennen, was es sieht, und die tägliche Begegnung mit den verschiedensten Lebewesen kann zum wichtigen Motor für die Sprachentwicklung werden. Das zeigt sich auch ganz besonders in der „Warum“-Phase, in der sich Kleinkinder erstmals als kleine PhilosophInnen betätigen und am liebsten den ganzen Tag fragen und diskutieren möchten, wie die Welt eigentlich funktioniert – und warum!
Im Kindergartenalter eignet sich dann so manches Kind schon ein beeindruckend breites Wissen über verschiedene Tiere, aber womöglich auch über das Weltall oder Vulkane an. Das Wissen bleibt aber eher punktuell und lebt von der Ästhetik des Gegenstands: Bestimmte Tiere sind besonders süß oder eignen sich toll als Identifikationsfiguren, vom starken Löwen bis zur frechen Ziege; die Sterne glitzern nachts so geheimnisvoll; das Meer sieht so schön aus und fasziniert mit seiner Weite und Tiefe und der Vielfalt seiner Bewohner.
Wie auch immer das Interesse deines Kindes an der Natur sich gestaltet: unterstütze es, ohne zu viel Einfluss darauf zu nehmen.
Die Natur erfahren im Alter von 6 bis 12
Nach Maria Montessori tut sich im kindlichen Intellekt enorm viel, wenn die Milchzähne beginnen, sich zu verabschieden.
Tatsächlich fällt diese offenkundige körperliche Veränderung oft mit intensiven Umbauprozessen im Gehirn zusammen. Es ist kein Zufall, dass Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren eingeschult werden. In dieser Zeit entwickelt sich nämlich die Fähigkeit zur Abstraktion: Neben der sinnlichen Erfahrung der Natur wird jetzt auch das systematische Wissen über sie immer interessanter.
Ab diesem Alter kannst du deinem Kind vermitteln, wie die Welt als Gesamtheit aufgebaut ist. Maria Montessori empfiehlt dabei, Kinder keinesfalls zu unterfordern, sondern ihnen die Komplexität des Kosmos zuzumuten. Ist z. B. die Rede davon, dass die Erde ein Planet in einem Sonnensystem ist, soll sofort vermittelt werden, dass es eine große Zahl an Sonnensystemen mit noch viel mehr Planeten gibt.
Die sinnliche Erfahrung der Natur bleibt sehr wichtig, darf aber anspruchsvoller werden. Im Alter von etwas sechs Jahren können schon Teleskop und Mikroskop/Lupe eingeführt werden, um jene Teile unserer Umwelt zu erfahren, die nicht so leicht zugänglich sind.
Zugleich lernt das Kind jetzt auch zunehmend, diese Umwelt zu manipulieren und dafür gibt es viele praktische Übungen: Vom Schnitzen übers Feuermachen bis zum Gemüse anbauen und sogar Kochen sind alle Tätigkeiten, die Naturmaterialien involvieren Teil der kosmischen Erziehung.
Außerdem entwickelt sich der Mensch in dieser zweiten Phase der Kindheit zu einem moralischen Wesen. Das Bewusstsein für die eigene Verantwortung wächst und Kinder beginnen zu verstehen, dass auch nicht-menschliche Lebewesen leiden können. In diesem Alter können viele Kinder sich schon entsetzlich über Tierquälerei empören und begreifen zugleich, dass sie selbst auf mehr oder weniger ethische Weise handeln können.
Die Natur erfahren im Alter von 12 bis 18
Ab etwa 11 oder 12 Jahren entwickeln sich sowohl der Intellekt als auch das Sozialverhalten eines Menschen nochmals ganz rapide. Das naturwissenschaftliche Verständnis vieler Jugendlicher steht dem von gebildeten Erwachsenen kaum nach; die Neugier des Kindes wird zu einem immer tiefergehenden Wissen- und Verstehen-Wollen, das in diesen prägenden Jahren ein wichtiger Motor für Erkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung ist. Zugleich sind das Gerechtigkeitsempfinden und der politische Idealismus wohl in keinem Alter so ausgeprägt wie in den Jugendjahren.
Daran, wie kompromisslos sich viele Jugendliche für Klima- und Naturschutz einsetzen lässt sich aufzeigen, was kosmische Erziehung langfristig zum Ziel hat: Eine klare Haltung, die Intellekt (Wissen), Herz (engagiertes Handeln) und Seele (eine tiefe und empathische Beziehung zur Natur) miteinander verbindet. Auch wenn Jugendliche oft unbequem in ihrer Radikalität sind, sollten PädagogInnen und Eltern (klima-)politisches Interesse und Engagement begrüßen und unterstützen, wo es nur geht.
Der Naturtag wird in vielen Montessorischulen mit dem Eintritt in die Sekundaria mit etwa 12 Jahren ausgesetzt – die Zeit wird benötigt, um sich systematisch im Bereich der Naturwissenschaften wie auch der Geographie zu bilden. In diesem Alter hat sich das Sein in der Natur und seine weitereichenden Folgen für unser Wohlbefinden und unser Selbstverständnis als Menschen so tief eingeprägt, dass viele Jugendliche von sich aus danach suchen und etwa den Wald oder das Meer als Quellen der Ruhe und des Trostes begreifen.
Denn diese klaren Worte Montessoris, aus denen die Naturwissenschaftlerin die spirituell veranlagte Pädagogin sprechen, gelten wohl für jedes Lebensalter:
„Keine Beschreibung, kein Bild irgendeines Buches können das wirkliche Sehen der Bäume in einem Wald mit dem ganzen Leben, das sich um sie herum abspielt, ersetzen. Die Bäume strömen etwas aus, was zur Seele spricht, etwas, was kein Buch und keine Sammlung vermitteln könnten. Der Wald, den man sieht, offenbart, dass es darin nicht nur Bäume gibt, sondern eine Gesamtheit von Lebewesen.“