Vieles scheint bei Montessori darauf angelegt sein, einem Kind zur Unabhängigkeit zu verhelfen. Oder wie soll man denn sonst den berühmten Satz “Hilf mir, es selbst zu tun!” verstehen?
Aber wieso ist ihr die Unabhängigkeit so wichtig, dass sie sogar verlangt, dass ein Kleinkind sich selbst zu Bett bringen soll? Es geht hier um den Kern der Montessori-Pädagogik, der verdeutlicht, wie ungewöhnlich und radikal Montessoris Ansichten waren.
Die unabhängige Person von Anfang an
Unabhängigkeit ist ein zentraler Wert für Maria Montessori – wenn nicht sogar der eigentliche Zielpunkt ihrer pädagogischen Bemühungen.
Dabei denkt sie stets als Naturwissenschaftlerin und beobachtet aufs Genaueste, wie der Mensch (und auch andere Tiere) sich im Laufe ihrer Entwicklung verhalten. Ihre Schlussfolgerung: Das Streben nach einem autarken und unabhängigen Leben ist universell.
Beim Menschen zeigt sich dieser innere Drang aber besonders stark, da er seine Freiheit auf so vielen Ebenen (in Bezug auf seine Bewegungen, seinen Willen, seine Gefühle, sein Denken, seine Entscheidungen und seine Handlungen) verwirklichen muss.
eAb der Geburt strebt der Mensch nach Unabhängigkeit, so Montessori. In der frühen Kindheit und später in der Pubertät zeigt sich dieses Streben besonders deutlich.
Bei einem Baby sind wichtige Meilensteine in Bezug auf die Unabhängigkeit diese:
- Das Essen von fester Nahrung, das mit einem selbstgeleiteten Abstillen (von der Mutter oder der Flaschennahrung) mit sich bringt.
- Zunehmende Mobilität: Wer krabbeln, aufstehen, gehen, laufen, klettern kann, der kann sich selbst dorthin bewegen, wo es ihn hinzieht.
- Die rapide Entwicklung der Sprachfähigkeit: Ein Kind, das gut sprechen kann, ist nicht mehr darauf angewiesen, dass eine vertraute Person seine Bedürfnisse errät. Es kann klar sagen, was es braucht, was es sich denkt und was es wissen und tun möchte.
Wenn diese drei Schritte so ungefähr vollzogen sind, kommt es oft zum Höhepunkt der Autonomiephase: Das Kind versucht vehement, sich als eigene Persönlichkeit zu behaupten.
Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse
Wenn du diesem (zugegeben manchmal anstrengenden) Streben fast unbegrenzten Raum lässt und dein Kind darin begleitest, wird es nicht nur eine unabhängige Person, sondern auch eine, die Verantwortung übernehmen kann.
Doch wenn das jetzt zu radikal klingt, mach dir eine massive Einschränkung bewusst: Das alles passiert in einer vorbereiteten Umgebung, unter dem aufmerksamen Blick einer erwachsenen Bezugsperson.
Das Montessori-Kind wird in einer künstlich geschaffenen Umgebung groß, und nur in dieser kann es zu dieser großen Unabhängigkeit finden. Es wird stets liebevoll begleitet und nicht ins kalte Wasser geworfen oder sich selbst überlassen.
Ein Kind kann in dieser vorbereiteten Umgebung üben, sich eigenverantwortlich um sich selbst und andere zu kümmern. Das hat zwei große Vorteile, die ganz immens für die Montessori-Pädagogik sprechen.
Das Wunder des Erfolgserlebnisses
Erstens führt die Freiheit innerhalb des vorgegebenen Rahmens zu viel mehr Disziplin – paradoxerweise. Es scheint so zu sein, dass Kinder sich „kindisch“ verhalten, weil wir ihnen zu wenig Verantwortung übertragen und sie dadurch unterfordern. Dieser Effekt konnte seit den ersten Case dei Bambini vermutlich millionenfach beobachtet werden.
Dadurch, dass Kinder so vieles alleine schaffen, steigt ihr Selbstwert und sie empfinden Achtung vor sich selbst und anderen.
Zweitens ist ein Kind, dass Verantwortung übernehmen darf auch eines, das rasch lernt.
Ein Einjähriges, das sich selbst die Hände wäscht?
Ein Zweijähriges, das sich alleine auszieht und die Wäsche ordentlich in den Wäschekorb räumt?
Ein Dreijähriges, das mit größtem Vergnügen zu schreiben anfängt?
Bei Montessori wahrlich keine Seltenheit!
Einem Kind nicht die Autonomie absprechen
Das widerspricht unserer Intuition oft massiv, denn wir nehmen an, dass ein kleines Kind erst mühsam lernen muss, sich um sich selbst zu kümmern und dass wir ihm alles mit ebenso viel Mühe „beibringen“ (und abnehmen) müssen.
In der Montessori-Pädagogik wird einem Kind seine Autonomie nicht genommen und dann wieder zurückgegeben, wenn es älter geworden ist.
Vom Säuglingsalter an wird es ermutigt, sich selbst um seine körperlichen, seelischen und geistigen Bedürfnisse zu kümmern und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ein Baby darf sich selbst den Löffel mit dem Brei in den Mund stecken. Ein Kleinkind soll sich selbst Wasser einschenken, wenn es Durst hat und kann sich in sein Bett legen, wenn es schlafen möchte.
Nichtsdestotrotz muss über mehrere Jahre stets eine Bezugsperson unterstützend in der Nähe sein.
Doch das Ziel ist dabei immer, das Kind in seinem Selbstgefühl zu stärken, sodass es sich aus sich selbst heraus mit der Welt auseinandersetzen kann. Es muss ihm nicht erst vermittelt werden, wie man lebt, lernt und sich weiterentwickelt. Ein Kind tut genau das vom ersten Tag an.
Ein einfaches Beispiel für eine solche Haltung: Anstatt ein Kind vor Situationen zu bewahren, in denen es hinfallen und sich verletzen kann oder es beim Spielen und Laufen ständig einzubremsen, wird in einem sicheren Rahmen das Körpergefühl gestärkt. Das Kind soll sogar stürzen, stolpern und fallen, damit es den eigenen Körper kennenlernen kann.
Wenn das in einer vorbereiteten Umgebung geschieht, in der die Verletzungsgefahr minimal gehalten wird, hat das Kind in einer späteren riskanten Situation einen entscheidenden Vorteil: Es kann den eigenen Körper gut fühlen und weiß, was es sich zumuten kann.
Darf mein Kind mich denn nicht brauchen?
Vor dem Hintergrund der Entwicklungspsychologie wird die Unabhängigkeit bei Montessori wohl etwas überbetont. Ein Kind strebt nicht nur ab der Geburt nach Unabhängigkeit, sondern auch danach, tiefe, vertrauensvolle Bindungen einzugehen. Diese Beziehungen zu vertrauten Personen sind für ein Kleinkind überlebenswichtig und sie bleiben auch im Erwachsenenalter essentiell für unser psychisches Wohlbefinden.
Das soll keinesfalls bedeuten, dass Unabhängigkeit kein starker Motor im Leben eines Menschen ist, aber er steht in Spannung mit seiner zutiefst sozialen Verfasstheit und seiner lebenslangen Abhängigkeit von anderen.
Und das bestätigt auf gewisse Weise wieder Montessori: Die Entwicklung zu einer unabhängigen, handlungsfähigen Person vollzieht sich auch ihr zufolge nicht im Alleinsein. Stattdessen braucht es jemanden, der diese Unabhängigkeit fördert und gutheißt und dem Kind dadurch vermittelt: Es freut mich, wenn du dir selbst helfen kannst und dich im Leben zurechtfindest. Ich will dich nicht kleinhalten, sondern respektiere, dass du eine eigenständige Persönlichkeit bist.