Emmi Pikler: Ihr Leben und Werk

Wer war Emmi Pikler?

Bei vielen ReformpädagogInnen steht der Name fürs Programm. Ihre Methoden sind oft deutlich besser bekannt und erforscht als ihre Personen. Doch sind Friedrich Fröbel, Maria Montessori und Rudolf Steiner doch historische Persönlichkeiten, die man kennt. Die Frau hinter dem Pikler-Dreieck ist dagegen weitgehend unbekannt geblieben.

Emmi Pikler, Ärztin wie Maria Montessori, in Wien beheimatet wie Rudolf Steiner, ist eine Frau, die scheinbar im Schatten ihrer Arbeit steht. Doch wie bei so vielen anderen außergewöhnlichen Persönlichkeiten wird das Werk erst vor dem Hintergrund der Biografie so richtig nachvollziehbar.

Ein lichter Anfang

Emmi Pikler war selbst Tochter einer Kindergärtnerin, die sie bereits im Alter von 12 Jahren verlor. Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob der frühe Tod ihrer Mutter zu ihrem Entschluss, Ärztin zu werden, beigetragen hat.

Geboren wurde sie 1902 als Emilie Reich in Wien, wo ihre Mutter herstammte, doch die Familie zog schon bald nach Budapest. Der Vater war Ungar und Emmi lebte bis zum Schulabschluss dort. Dann aber wollte sie Medizin studieren und zog wieder nach Wien. Es war die Zeit Sigmund Freuds und es gab schon erste Ansätze einer modernen Entwicklungspsychologie.

Ihr Professor, Hans Salzer, hatte zudem einen neue Methode für die Pädiatrie entwickelt. Die revolutionäre Idee war die, auch Kinder als vollwertige PatientInnen zu betrachten und sie mit Respekt zu behandeln. Emmi Reich interessierte sich sehr für diese neuen Theorien, und sie traf bald den richtigen Partner, um sie weiterzuentwickeln.

György Pikler war Mathematiker und Pädagoge und er und Emmi heirateten nach einiger Zeit.

Das eigene Kind als Ausgangspunkt

Emmi Pikler wurde mit 29 Jahren selbst Mutter eines Mädchens namens Anna. Sie und György konnten ihre pädagogischen Ideen erstmals richtig umsetzen. Zu dieser Zeit lebten sie in Triest.

Anna sollte sich ganz aus ihren eigenen Bedürfnissen heraus entwickeln und wurde nicht, wie andere Kinder, zum Sitzen, Stehen und Gehen gedrängt. Sie wurde auf achtsame, liebevolle Weise zu einer unabhängigen Person erzogen.

Diese Methode erwies sich als erfolgreich. Doch bald hatten die Piklers mit ganz anderen Problem zu kämpfen. Emmi eröffnete 1935 eine pädiatrische Praxis in Budapest, obwohl sie als Jüdin in einer schwierigen Position war. Doch sie konnte ihre Arbeit den ganzen Zweiten Weltkrieg hinweg fortsetzen, während György neun Jahre lang als Kommunist inhaftiert war.

Emmi war eine äußerst beliebte Kinderärztin mit einem exzellenten Ruf und die Familien ihrer jungen PatientInnen setzten sich für sie ein.

Hier wurde spätestens klar: Mehr noch als das Heilen von Krankheiten interessierte sie sich für die optimale körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern und wurde bald zu einer echten Koryphäe im Schnittbereich zwischen Pädagogik und Medizin. Schon 1940 schrieb sie deshalb ein erstes Buch für Eltern, heute würden wir sagen: einen Ratgeber.

Nach dem Krieg konnte Emmi Pikler dann ihre Bestimmung finden. In der Lóczy-Straße in Budapest gründete sie ein Heim für verwaiste Kinder, die sodann nach ihren Vorstellungen betreut und gepflegt wurden. Das Personal bildete sie selbst aus und nutzte die Gelegenheit aus nächster Nähe weiter zu pädagogischen Fragen zu forschen.

Bis zum heutigen Tag ist “Lóczy”, wie das Heim bald genannt wurde, ein Pikler-Zentrum, in dem praktisch wie theoretisch gearbeitet wird.

Der Kreis des “Pikler-Ansatzes” schloss sich, als Anna Pikler (spätere Tardos) mit 25 Jahren selbst als Mitarbeiterin im Kinderheim einstieg und die Arbeit ihrer Mutter jahrzehntelang fortsetzte. Bis zu Emmis Tod im Jahr 1984 arbeiteten die beiden Seite an Seite, veröffentlichten mehrere Bücher und entwickelten Lóczy stetig weiter.

Die wichtigsten Beiträge

Pikler-Pädagogik steht heute für eine Reihe von Materialien und Prinzipien. Nicht bei allen davon ist klar, ob sie genau in dieser Form von Emmi Pikler entwickelt wurden, doch stammen sie alle aus Lóczy und werden auch heute noch dort verwendet.

Pikler-Dreieck & Co. dürfen als sinnvolle und wichtige Ergänzungen für ein kindgerechtes Aufwachsen gelten, doch sind sie dafür nicht zentral. Wirklich notwendig sind dafür nach Emmi Pikler:

  • Eine intensive Aufmerksamkeit und Empathie von Seiten des betreuenden Erwachsenen: Das war es, wofür Emmi Pikler selbst in ihrer Rolle als Ärztin von vielen Seiten bewundert und geschätzt wurde. Das Kind fühlt das aufrichtige Interesse des Erwachsenen und wird dadurch ruhiger und eher zur Kooperation bereit – egal in welchem Kontext.
  • Eine sehr klare, ruhige und respektvolle Kommunikation mit dem Kind von Anfang an: Dabei zentral ist, das Kind jederzeit wissen zu lassen, was mit ihm und um es herum geschieht. Das gilt nicht zuletzt für seine eigenen starken Emotionen, die niemals unterdrückt oder abgewertet werden sollen.
  • Die Erziehung zu einem starken Gefühl für den eigenen Körper und das eigene Selbst: Das ist laut Pikler die wichtigste Grundlage für echte Selbstsicherheit. Vom ständigen Tragen und Halten des Säuglings und Kleinkinds hält sie übrigens wenig. Viel wichtiger ist ihr die authentische, achtsame Begegnung mit dem Kind als eigenständiger Person.
  • Freie Bewegung: Speziell die motorische Entwicklung soll von außen unbeeinflusst bleiben. Eltern sollen ihre Kinder nur beobachten und nur im Notfall helfen, wenn das Kind sich etwa gerade im Krabbeln, Laufen oder Klettern übt. Eine speziell vorbereitete Umgebung kann das Kind zur richtigen Zeit anregen, seinen Körper auf eine bestimmte Art auszuprobieren. Mehr Unterstützung soll es dabei aber nicht geben.
  • Unabhängiges Spiel: Das Spiel ist bei Pikler das selbstgerichtete Kennenlernen der Welt auf einer sinnlichen, intellektuellen und emotionalen Ebene. Jede Intervention eines Erwachsenen gibt dieser ernsthaften Tätigkeit eine bestimmte Richtung, die vielleicht andere Erkenntnisse beim Kind verhindert. Deshalb soll von Anfang an das freie Spiel ohne Regeln und ohne Einmischung gefördert werden.
  • Vorbereitete Umgebung: In einer ruhigen, klaren Umgebung mit sinnvollen Materialien und Spielsachen lernt ein Kind am intensivsten. Besser als Spielsachen mit einer einzelnen klaren Funktionsweise sind Materialien, die offen für die Kreativität und intuitive Herangehensweise eines Kindes ist. Das Material soll also in jedem Moment zu dem werden, was das Kind gerade braucht.

Nachwirken

Auch über 100 Jahre nach Emmi Piklers Geburt gibt es zahlreiche Institutionen, die nach ihren Ideen und praktischen Anweisungen arbeiten. Besonders in Österreich, aber auch in Deutschland tragen Kitas und Kindergärten ihren Namen, arbeiten nach ihren Prinzipien und verwenden die von ihr entworfenen Materialien.

Zwar ist die Bewegung hier in Europa unbedeutender als die Montessori-Pädagogik, doch bleibt sie präsent und entwickelt sich weiter. In fünf Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz, Ungarn, Niederlande) bietet der Pikler-Verband eine Ausbildung an, die drei Jahre dauert und als sehr fundierte Hinführung zu Emmi Piklers Theorien und Konzepten gilt. Die fertigen Pikler-PädagogInnen arbeiten dann in Kitas, aber auch in speziellen Spielräumen nach Pikler, die wie Eltern-Kind-Zentren funktionieren.

Emmi Piklers SchülerInnen haben ihre Ideen in die ganze Welt getragen. Auf fruchtbaren Boden fielen sie vor allem in den USA. Piklers enge Mitarbeiterin Magda Gerber, selbst Ungarin, emigrierte in den 1950er Jahren in die USA und gründete später die Organisation RIE ® (Resources for Infant Educarers). “RIE” ist heute ein Synonym für einen sehr liebevollen und ruhigen Umgang mit Kindern, der auf klarer Kommunikation beruht und auch als “Respectful parenting” bekannt ist.

Viele Eltern wenden diesen Erziehungsstil heute an, ohne zu wissen, dass er eigentlich auf der Arbeit der Frau beruht, die das so beliebte Kletterdreieck entworfen hat.

Über die Autorin

Ich bin Susannah und schreibe für diesen wunderbaren Blog. Als Erziehungswissenschaftlerin und Mama suche ich stets nach Wegen, wie der Alltag mit Kind sich ruhig und authentisch gestalten lässt. Montessori kann hier viele großartige Impulse liefern, aber man darf sie auch ein wenig „gegen den Strich bürsten“ und zeitgemäß interpretieren. Ich habe die Hoffnung, dass der eine oder andere Artikel hier im Blog zu einem „Hilf mir, es selbst zu tun“ für Eltern werden kann.

Über das gesamte Montessori-Kinder Team erfährst Du auf der Über uns“ Seite