Die Polarisation der Aufmerksamkeit

Anders als oft angenommen basiert Maria Montessoris Philosophie nicht auf hehren Idealen von Freiheit und Unabhängigkeit oder auf einem speziellen Menschenbild. Die Grundlage ihrer Arbeit ist ein Phänomen, dass sie selbst später als „Polarisation der Aufmerksamkeit“ bezeichnete.

Er ist gekennzeichnet durch eine besonders intensive Konzentration auf das, was man gerade tut, wobei die Außenwelt fast völlig ausgeblendet wird. Doch was hat es mit der Polarisation der Aufmerksamkeit auf und warum ist sie so wichtig für die Entwicklung des Kindes?

Darauf konzentrieren wir uns in diesem Artikel – und zwar mit allergrößter Aufmerksamkeit!

Was bedeutet “polarisierte Aufmerksamkeit”?

Diesen etwas sperrigen Begriff hat Maria Montessori bestimmt mit Bedacht gewählt, wo er ihre Pädagogik doch auf eine ganz lebensnahe Basis stellt: Zentral ist das Bild von einem Kind, das in absolut zufriedener Versunkenheit wieder und wieder dieselbe Tätigkeit ausführt.

Dieses Kind ist sozusagen das erklärte Ziel der Montessori-Pädagogik.

Ist die Aufmerksamkeit polarisiert, konzentriert sich eine Person voll und ganz auf das, was sie gerade tut. Die Umgebung wird ausgeblendet, das Zeitgefühl ist verzerrt.

Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist also eng mit dem verwandt, was in der Psychologie „Flow“ heißt, doch Montessori hat für die kindliche Aufmerksamkeit einige Besonderheiten festgestellt:

  • Kinder neigen stark zur Wiederholung. Sie können ein- und desselben Bewegungs- oder Handlungsablauf viele Male wiederholen und sind damit völlig glücklich. Es kommt während dieser repetitiven Episoden niemals zur Langeweile.

  • Kindern fällt es grundsätzlich leichter, in diesen Zustand zu kommen als Erwachsenen. Es entspricht, so Montessori, ganz einfach ihrer Natur als Kinder und gelingt deshalb nur ohne äußeres Zutun und ohne Druck.

  • In einer Phase der polarisierten Aufmerksamkeit sind Intellekt und Hand “eins”, wie Montessori sagt. Das Kind nimmt nichts wahr als die eigene Tätigkeit und wirkt nach außen sehr konzentriert, aber auch heiter und gelöst. Jede Unterbrechung stört die innere Einheit massiv und meist findet die Person dann nicht mehr zurück in den Flow.

  • Damit es zu einer Polarisation der Aufmerksamkeit kommen kann, muss das Kind seine Tätigkeit aus einem größeren Angebot selbst treffen dürfen, und zwar in aller Ruhe. Der Flow ist das charakteristische Verhalten eines Kindes, das sich gerade mitten in einer sensiblen Phase befindet und mit größter Leidenschaft etwas Neues lernt. Welche sensible Phase gerade ansteht, kann man von außen mit sehr viel Achtsamkeit vielleicht erkennen und dann einige Aktivitäten anbieten, die dazu passen.

Einer Phase der polarisierten Aufmerksamkeit geht eine Zeit der Vorbereitung voraus, in der das Kind sich für eine bestimmte Aktivität entscheidet und sich langsam darin vertieft.

Dann folgt der eigentliche Flow, der je nach Alter bis zu 90 Minuten dauern kann. Wenn es ganz fertig ist, folgt eine Phase der Reflexion und Ruhe, in der das Kind oft sehr zufrieden ist und manchmal auch darüber reden möchte, was es gemacht hat.

Wieso ist die Polarisation der Aufmerksamkeit so wichtig?

In diesem Zustand allerhöchster Konzentration passiert laut Montessori etwas Entscheidendes im Kind. Es kommt zu einer Veränderung oder Erweiterung des Denkens und Wahrnehmens.

Oft ist es eine Phase der polarisierten Aufmerksamkeit, in der der sprichwörtliche Groschen fällt und ein Kind etwas wirklich versteht und verinnerlicht. Das deckt sich natürlich mit der kognitionswissenschaftlichen Annahme, dass die intrinsische Motivation und, damit verbunden, eine erhöhte Wachheit besonders nachhaltige Lernerfahrungen zeitigen.

Was hat die vorbereitete Umgebung damit zu tun?

Einerseits ist eine angenehme, ruhige Umgebung wichtig, damit sich das Kind seiner Arbeit überhaupt hingeben kann. Andererseits ist das richtige Angebot an Aktivitäten natürlich die wichtigste Grundlage dafür, genau die richtige Arbeit zu finden.

Vielleicht ist es möglich, dass du auch zu Hause immer nur eine kleine Auswahl an Materialien vorbereitest, die gerade zur Entwicklungsstufe deines Kindes passen. Sowie das Kind weiß, wie die einzelnen Dinge funktionieren, braucht es keine Unterstützung mehr beim Bewältigen der Herausforderung.

Wichtig ist, dass die Materialien anschaulich präsentiert und nicht in verschlossenen Kisten verstaut sind. Dabei kann ein offenes Montessori Regal helfen.

Wie das mit der Polarisation gelingt: Tipps und Tricks

Aufmerksamkeit und Konzentration sind individuell sehr unterschiedliche Zustände. Und nicht alle Kinder (oder Erwachsenen) tun sich gleichermaßen leicht, sich in einen Flow zu begeben. 

Diese Maßnahmen helfen dabei, diesen wunderbaren Zustand leichter herbeizuführen:

  • Die vorbereitete Umgebung muss nicht aussehen wie in einer Montessori-Einrichtung. Aber sie soll Ruhe, Ordnung und Freiheit vermitteln. Am besten handelt es sich um einen freundlichen, hellen, warmen Raum, der klar strukturiert ist. 
  • Bei einem Kind, das leicht ablenkbar ist oder sich manchmal nur schwer konzentrieren kann, hilft eine Umgebung, die nicht nur ordentlich, sondern auch möglichst reizarm ist. 
  • Um sich ganz und gar einer Tätigkeit hingeben zu können, muss man alles andere loslassen. Ein Kind muss sich deshalb auch ganz sicher fühlen, um so gelassen an etwas arbeiten zu können. Eventuell braucht es dazu eine vertraute Umgebung oder die Gewissheit, dass du in der Nähe bleibst
  • Die Aufmerksamkeit wird durch unerfüllte Bedürfnisse oft gestört. Vermutlich findet dein Kind nur in eine Polarisation der Aufmerksamkeit, wenn es ausgeruht und satt ist, nicht auf die Toilette muss und emotional im Gleichgewicht ist.
  • Es kann eine ganze Weile dauern, bis ihr eine Aktivität gefunden habt, die dem Interesse und der Entwicklungsstufe deines Kindes genau entsprechen. Da gilt es, geduldig auszuprobieren und dabei einfallsreich und flexibel zu sein. Beobachte genau, was dein Kind zur Zeit besonders interessiert und versuche, eine Reihe von Tätigkeiten und Materialien anzubieten, die zu diesem Interesse passen.

Sowie du bemerkst, dass sich dein Kind mit einem bestimmten Objekt oder Arbeitsmaterial befasst und sich intensiv dafür interessiert, nimm dich zurück. Montessori empfiehlt sogar, das Kind dann keines Blickes mehr zu würdigen, bis es von selbst signalisiert, dass es fertig ist.

Jeder Kommentar von außen, jede Unterbrechung, jedes Lob unterbricht die Polarisation der Aufmerksamkeit.

  • Vielleicht hast du den Eindruck, dein Kind würde überhaupt nie so aufmerksam an etwas arbeiten, aber das kann auch an deiner Erwartung liegen. Es müssen nicht die herkömmlichen Montessori-Aktivitäten sein, die es interessieren und fesseln. Womöglich erlebt dein Kind seine Flow-Erfahrungen beim Klettern, Laufrad Fahren, Playmobil Spielen oder einfach, wenn es vom Fenster aus beobachtet, was draußen so passiert. 
Über die Autorin

Ich bin Susannah und schreibe für diesen wunderbaren Blog. Als Erziehungswissenschaftlerin und Mama suche ich stets nach Wegen, wie der Alltag mit Kind sich ruhig und authentisch gestalten lässt. Montessori kann hier viele großartige Impulse liefern, aber man darf sie auch ein wenig „gegen den Strich bürsten“ und zeitgemäß interpretieren. Ich habe die Hoffnung, dass der eine oder andere Artikel hier im Blog zu einem „Hilf mir, es selbst zu tun“ für Eltern werden kann.

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