Äußere und die innere Ordnung nach Montessori: Warum Ordnung für Dein Kind wichtig ist

Wenn die Wörter „Kinder“ und „Freiheit“ in einem Satz fallen, gibt es eine naheliegende Fantasie: Unordnung, Chaos und Aufruhr.

Nein, sagt Montessori. Kinder sind anders. Sie mögen Ordnung, sie brauchen Ordnung, Ordnung ist ein Aspekt ihres Naturells.

Ihr größtes Anliegen ist es, der Welt in ihrem Kopf eine Form, eine Ordnung, einen Sinn zu verleihen.

Doch woher kommt dann die Fantasie vom Kinderzimmer, in dem alles drunter und drüber geht?

Nun, so würde Montessori sagen, Ordnung entsteht zwar von selbst, aber nicht unter allen Umständen. Und welche Umstände es braucht, damit Dein Kind der Welt um sich herum Sinn und Ordnung verleihen kann, erfährst Du in diesem Artikel.

Ordnung als Auftrag

Es gibt dieses Gedankenexperiment, für das wir so oft keine Zeit haben, und das der Beziehung zu unseren Kindern so guttäte: Uns mit Neugier und Ernsthaftigkeit der Frage widmen, wie sie die Welt und sich selbst erleben.

Je jünger das Kind, desto schwieriger ist die Übung, denn irgendwann lässt uns unsere Erinnerung im Stich.

Montessori versucht es trotzdem und kommt zum Schluss: Die Erfahrung eines kleinen Kindes gleicht der eines Migranten oder einer Migrantin in einem gänzlich unbekannten Land.

Mühevoll muss das Kind die eigene Muttersprache erlernen und aus Beobachtung und Interaktion ableiten, wie die soziale Ordnung funktioniert, wie die Welt aufgebaut ist, was richtig und was falsch ist…

Vom Flow zur Struktur

Glücklicherweise ist es für diese enorme Aufgabe mit dem perfekten Werkzeug ausgestattet: Mit einem absorbierenden Geist, der mühelos neue und komplexe Informationen aufnimmt, speichert und in Handlungswissen überträgt.

Und doch ist das, was einem kleinen Kind da an ungeordneten und unbegreiflichen Phänomenen begegnet, einfach zu viel, um alleine damit zurechtzukommen.

Für einen Säugling ist die Welt zunächst ein ständig wechselnder Strom an Empfindungen, von denen manche angenehm, andere ganz unbehaglich sind. Manche Dinge sind dabei besonders interessant: Gesichter, Lichtquellen, Musik. Bald lernt er, dass manche Erfahrungen immer wiederkehren. Die Welt bekommt eine Ordnung. Doch immer noch strömen ständig neue Empfindungen auf das Kind ein.

Deshalb ordnen wir (nicht erst seit Montessori) die kleine Welt, in der unser Kind sich bewegt, auf bestimmte Weise. Wir schaffen eine vorbereitete Umgebung. Und wir machen uns auch selbst bereit, um unserem Kind in seiner Aufgabe die bestmögliche Anleitung zu geben. 

Die Ordnung, die wir ihm anbieten, wird mit darüber entscheiden, wie sich sein Geist entwickelt und wie es mit neuen Erfahrungen geben. Sie wird den Unterschied zwischen Überforderung und echtem Lernen darstellen. Sie wird massiven Einfluss darauf haben, wie unsere Kinder die Welt wahrnehmen – als chaotisch und bedrohlich oder im Innersten harmonisch und spannend.

Die äußere Ordnung verhilft einem Kind auch dazu, Disziplin zu entwickeln und sein eigenes Handeln zu ordnen, sodass es sich später in Einklang mit seinen Werten verhalten kann und für ein gutes Leben zu arbeiten bereit ist.

Wenn und das gelingt, werden unsere Kinder der Welt und ihrem eigenen Leben Sinn zuschreiben können – und sie werden mutig und neugierig losstarten können, um immer mehr und mehr zu entdecken.

Bei Montessori ist Ordnung der halbe Weg. Aber welche Art der Ordnung meint sie?

Meine eigene kleine Welt

Ein Wort zur vorbereiteten Umgebung

Die Ordnung der großen Welt muss sich in der direkten Umgebung des Kindes spiegeln. Diese Umgebung ist dabei dynamisch zu verstehen; sie meint nicht nur die Einrichtung des Kinderzimmers, sondern das gesamte Alltagsleben des Kindes, inklusive des Kontakts zu anderen Menschen.

Die unmittelbare Lebenswelt deines Kleinen muss nachvollziehbar und einladend sein, sodass es sich gerne darin bewegt und sich dabei selbstsicher und kompetent fühlen kann. Hierbei ist es wichtig, dass der Alltag eine klare Struktur hat, dass du selbst sich auf konsistente Weise verhältst, und natürlich auch, dass die räumliche Umgebung eine klare Ordnung hat.

>> Mehr über die vorbereitete Umgebung erfährst Du hier

Im Folgenden geht es darum, wie du das in den ersten Lebensjahren optimal umsetzen kannst.

Ordnung für Neugeborene

Die Ordnung der Welt beginnt im ganz Kleinen. Von den ersten Tagen seines Lebens an gewöhnt sich ein Kind langsam an die Welt. Wir können es dabei unterstützen, indem wir Anker setzen – z.B. visueller Art,

  • in Form von Mobiles und
  • sanften Lichtquellen oder
  • akustischer Art, indem wir häufig dieselben Lieder singen oder Spieluhren nutzen.

Dabei sorgen wir aufmerksam dafür, dass es keine großen Veränderungen gibt, damit die Anker erhalten bleiben. Viel Struktur, auch im Tagesablauf, hilft einem Säugling, seine Lebenswelt zu strukturieren. Vertraute Gegenstände und Abläufe vermitteln Geborgenheit.

Die wichtigste Konstante sind dabei natürlich die Bezugspersonen, die sich möglichst zuverlässig und berechenbar verhalten.

So sind die ersten Lebenserfahrungen positive, und das Baby entwickelt ein gewisses Urvertrauen, auf dessen Grundlage es sich selbstbewusst in neue Erlebnisse stürzen kann. 

Das Kleinkind auf Entdeckungsreise

Während das Baby hauptsächlich empfindet und sich langsam zum handelnden Menschen entwickelt, ist das Kleinkind schon richtig intellektuell. Es experimentiert, beobachtet, analysiert und begreift so mehr und mehr, wie die Welt funktioniert.

Die Aneignung der Muttersprache ist dabei der entscheidende Schritt, um in der Welt eine Ordnung zu entdecken.

Wörter und Begriffe sind nichts anderes als Kategorien, in die wir unsere Erlebnisse einordnen können. Dabei hilft es, wenn diese Erlebnisse möglichst wiederkehrend sind, sodass das ständig mobile Kleinkind auch lernt, sich auf seine Lebenswelt zu verlassen. In diesem Alter braucht es mehrere Bezugspersonen, die ihm seine Erfahrungen spiegeln und in Worte fassen können.

Manche Dinge finden Kinder jetzt beängstigend – auch das ist ein wichtiger Schritt, um der Welt Sinn und Struktur zu geben. Ängste müssen deshalb ernst genommen werden.

Im Alter von eins bis fünf lernen Kinder außerdem am besten von Vorbildern. Sowohl die soziale Ordnung, also Regeln des Anstands und der Zugehörigkeit, als auch die Ordnung der Objekte (was benutzt man wozu, und wo hat jedes Ding seinen Platz) prägen sich jetzt in idealer Weise ein.

Das funktioniert am besten, wenn du dein Kind in viele Alltagssituationen einbeziehst und ihm Handlungsspielräume eröffnest. Es darf ruhig im Haushalt helfen, so viel es kann und möchte und so begreifen, was “Ordnung” ganz wortwörtlich bedeutet. Gleichzeitig braucht ein Kleinkind laufend neue Herausforderung und viel Anregung für seinen sich entfaltenden Intellekt. 

Vertraute Struktur und anregende Neuheit wechseln sich hier am besten ab.

Geordnete Bewegungen

Durch eines zeichnen sich Kleinkinder wohl besonders aus: Sie können im Wachzustand kaum ein paar Sekunden bewegungslos verharren. Bewegung ist der Zweck ihres Daseins, und auch ihr Denken ist noch sehr beweglich – und sehr haptisch.

Das finden Erwachsene oft störend und möchten es unterbinden. Doch laut Montessori ist dies genau der falsche Zugang. Denn das Kind versucht mittels seiner zunächst unkoordinierten Bewegungen, seine Lebenswelt zu bewältigen. Es übt gleichsam, damit es sich im Alltag schon bald frei und souverän bewegen kann.

Der beste Umgang mit dem ständigen Bewegungsdrang wäre, ihn in sinnvolle Bahnen zu lenken und dem Kind altersgemäße Angebote zu machen, z.B.:

  • Treppen steigen, auf Stühle klettern, balancieren, tanzen, laufen, Laufrad fahren
  • Im Haushalt und Garten helfen: Fegen, putzen, wischen, den Kochlöffel umrühren, Gegenstände bringen oder wegtragen, Wasser einschenken, Teig kneten, Gemüse schneiden, in der Erde graben, Abfall wegwerfen
  • Sich ausziehen, sich waschen, sich bürsten, die Zähne putzen
  • Zeichnen, malen, Objekte aus Salzteig formen, hämmern, schrauben, schneiden

Natürlich ist diese Liste keineswegs erschöpfend. Beobachte dein Kind und die Art, wie es sich bewegt. Biete ihm dann verschiedene Aktivitäten an, die ihm helfen, seine Bewegungen zu ordnen. Zeig dabei jeweils vor, wie man die Tätigkeit richtig ausführt.

Das Ergebnis ist häufig, dass das Kind einen insgesamt ruhigeren und „disziplinierteren“ Eindruck macht.

Geordnete Handlungen

Wenn das Kind diesen großen Schritt bewältigt hat und seine Bewegungen auf strukturierte Weise ausführen kann, handelt es schon zielgerichtet. Diese Fähigkeit wird es in den nächsten Jahren mehr und mehr vertiefen. Es lernt nicht nur einzelne Tätigkeiten, sondern ganze Handlungsabläufe kennen.

Anstatt sich nur auszuziehen, kann es sich bald selbstständig fürs Bett bereitmachen. Anfangs kann es sich vielleicht selbst den Teller füllen, aber bald wird es sich eigene kleine Mahlzeiten zubereiten.

Je mehr klare Anleitung und Freiraum Kinder erfahren, desto eher können sie ihren Alltag unabhängig bewältigen und brauchen dabei nach einigen Jahren nur mehr gelegentliche Hilfe.

Die Begleitung darf dabei aber nicht fehlen, damit sie die Bestätigung erhalten, etwas richtig gemacht zu haben, oder respektvoll auf Fehler aufmerksam gemacht werden.

Geordnete Wahrnehmung

Was wir über die Welt wissen, hat viel damit zu tun, wie wir uns bewegen. Oder anders gesagt: wer mobil ist, lebt in einer anderen Welt als jemand Bewegungsloses. Je mobiler dein Kind wird und desto mehr es seine Handlungen strukturieren kann, desto präziser wird seine Wahrnehmung.

Der Flow aus Eindrücken, dem ein Neugeborenes ausgesetzt ist, sieht schon lange ganz anders aus: Die Wahrnehmung wird fokussiert und selektiv, was momentan irrelevant ist, wird ausgeblendet. Es entwickeln sich Seh-, Hör- und Fühlgewohnheiten, nicht mehr alles ist neu, nicht mehr alles interessant.

Die Herausforderung besteht darin, diese strukturierte und intelligente Form der Wahrnehmung zu unterstützen und deinem Kind gleichzeitig seine Neugierde zu erhalten. Das funktioniert gut mit Achtsamkeits- und Aufmerksamkeitsübungen, die dafür sorgen, dass der Blick offen und für Ungewöhnliches bleibt, auch wenn es sich um ganz kleine Dinge handelt.

Hier bist du selbst das beste Vorbild, wenn du immer und immer wieder auf Kleinigkeiten hinweist, die für dein Kind interessant sein könnten. Bleib gleichzeitig auch neugierig auf seine Wahrnehmung der Welt, sodass ihr stets auch voneinander lernen könnt.

Die innere Struktur der Welt: Vom Konkreten zum Abstrakten

Wenn die turbulenten Kleinkindjahre vorbei sind, legen viele Kinder ein recht strukturiertes Verhalten an den Tag und wissen zugleich auch schon sehr viel über die Welt. In der Zeit zwischen etwa sechs und zwölf Jahren schreitet die Entwicklung sehr stetig und ruhig voran und spielt sich stark im kognitiven Bereich ab.

Zugleich wird der Aktionsradius deines Kindes immer größer und es sieht immer mehr von der Welt. Vielleicht erfährt es, dass andere Kinder ein ganz anderes Leben führen und dass es ganz verschiedene “Ordnungen” gibt. Auch wenn du den Eindruck hast, dein Kind sei schon sehr vernünftig, braucht es trotzdem noch viel Begleitung. Viele Erfahrungen lassen sich nicht gleich einordnen und verarbeiten.

Hier geht es auch darum, Bewältigungsstrategien zu erlernen, sodass du dich immer mehr darauf verlassen kannst, dass dein Kind sich draußen in der weiten Welt gut zurechtfinden kann. Hilfreich können hier etwa Visualisierungsübungen oder Fantasiereisen sein, die deinem Kind eine sichere innere Ordnung (etwa im Sinne eines mentalen Rückzugsorts) vermitteln, auf die es sich auch verlassen kann, wenn es draußen turbulent zugeht.

Auf der kognitiven Ebene ist es jetzt sehr wichtig, dass dein Kind viel sieht und erfährt, damit es eigene Interessen entwickeln kann. Das ist wichtig für den Selbstwert und auch dafür, den eigenen Platz in einer größeren und umfassenderen Ordnung (der Gesellschaft) einzunehmen.

Ordnung hat nämlich auch sehr viel mit einem subjektiven Gefühl der Sinnhaftigkeit zu tun, und das gilt es in diesen Jahren unbedingt zu stärken.

Der eigene Beitrag zur Ordnung der Welt

In der nächsten Lebensphase geht es nämlich sehr viel darum, sich selbst in die Gesellschaft einzubringen und etwas beizutragen. Die Jugendjahre sind von einer ähnlichen Turbulenz wie die Kleinkindzeit: Es geht um Unabhängigkeit, um Identität, und dabei tut sich ein völlig neuer Horizont auf.

Über die besonderen Herausforderungen der Teenager-Zeit geht es speziell in Montessoris Erdkinderplan. In wenigen Worten zusammengefasst muss sich ein junger Mensch in dieser Zeit vertiefte Kenntnisse über die Ordnung der Welt aneignen. Er muss aber auch lernen, sich selbst in diese Ordnung einzubringen und kreativ mit ihr umzugehen.

Es geht also weniger darum, sich einzufügen, als vielmehr um einen originären Beitrag zu einer sich ständig wandelnden Ordnung. Das ist keine kleine Herausforderung, aber im Idealfall hat sich das Kind schon seit seiner Babyzeit darauf vorbereiten können.

Wie auch sonst zeigen sich hier die besonderen Vorzüge der Kinder, die nach Montessori erzogen werden: eine gewisse Furchtlosigkeit, die stabile Überzeugung vom eigenen Wert als Person, und das Wissen darum, dass jegliche gemachte Ordnung am Ende für die Menschen da ist, und nicht umgekehrt.

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Über die Autorin

Ich bin Susannah und schreibe für diesen wunderbaren Blog. Als Erziehungswissenschaftlerin und Mama suche ich stets nach Wegen, wie der Alltag mit Kind sich ruhig und authentisch gestalten lässt. Montessori kann hier viele großartige Impulse liefern, aber man darf sie auch ein wenig „gegen den Strich bürsten“ und zeitgemäß interpretieren. Ich habe die Hoffnung, dass der eine oder andere Artikel hier im Blog zu einem „Hilf mir, es selbst zu tun“ für Eltern werden kann.

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